Radikale Selbstverantwortung

Ich laufe los, es ist Montagmorgen 10:00Uhr. Mein Ziel: ein Hügel. Mein Weg: einigermaßen bekannt. Wanderschuhe an, und ausnahmsweise Musik in den Ohren – sonst bin ich meist ohne Ohrstöpsel unterwegs.

Zuerst erfahre ich pure Freude, ich gönne mir eine Wandertour, nur für mich. Niemand weiß davon, nur ich, im Familienalltag ist das eher selten der Fall. Einfach los. Die ersten Meter scheinen leicht, ich fliege förmlich. Doch dann spüre ich da ist noch mehr. Meine Gedanken schweifen ab….ich laufe alleine und ich lebe ein Leben alleine und doch in Verbindung mit anderen. Irgendwie bin ich in Karlsruhe gelandet. Was hat mich hier herkommen lassen? Ist das mein Ort, will ich hier wirklich sein? Wo ist hier mein Platz, oder ist dieser doch eher in der Natur oder vielleicht sogar als Kind des Schwarzwalds in den Hügeln?

Alleine sein – ja, ich bin mit mir selbst und nur wenn ich in gutem Kontakt mit mir bin, bin ich im Moment lebendig, wach, klar und präsent. Nur dann kann ich ein gutes Gegenüber sein. Was für eine Erkenntnis zu mir selbst.

“Zu reifen bedeutet, die Verantwortung für sein eigenes Leben zu übernehmen und allein sein zu können.”

Fritz Perls

Der erste Berg ist bestiegen, ich stehe auf dem Mount Klotz und auch wenn ich diesen Hügel in der Parklandschaft in Karlsruhe als Berg nicht ernst nehmen kann, so bietet er mir eine Sicht auf mein heutiges Wanderziel: die Ausläufer der nördlichen Schwarzwaldhügel. Das scheint weiter als gedacht. Welch ein Glück, dass ich mir vertraue, meinem Körper vertraue, dass er dort ankommt, dass ich den Weg finde.

Mir selbst vertrauen, dass ich schon den Weg finde und die Fähigkeiten habe dort hin zu kommen. Das scheint nicht immer leicht, denn allzuoft liegt Nebel vor meinem Ziel und ich kann es nicht immer sehen. Überschattet von den alltäglichen Notwendigkeiten, dem Rush der Zeit, dem Versorgen von zwei unter zehnjährigen usw., usw….

Ich gehe meinen Weg weiter, aus Neugier biege ich an einer Kehre ab, die ich noch nie erkundet hatte. Anstelle Wald und Natur umgibt mich die Stadt, Bahnhof, Schnellstraße, Autoverkehr. Mein Gedanken werden wieder unruhiger… Warum bin ich nochmals hier gelandet?

Da war das Studium, der erste Job, die Liebe, die Freunde, das alles habe ich hier schon erlebt. Eine Zeit voller Erinnerungen, die mich nach einem Ausflug nach Hamburg (ca. 6,5 Jahre lebte ich dort) wieder zurück hier her zog. Aber will ich hier noch sein? Ich weiß es nicht.

Mir wird klar, dass ich all diese Dinge seit meinem Schulabschluss selbst erreicht habe. Ich habe zu vielem Ja gesagt, Erlebnisse, Erfahrungen und Menschen in mein Leben gelassen. Begegnungen ermöglicht, gelernt und gearbeitet. Es ist auch meine Entscheidung wo ich wie mit wem lebe. Seit ein paar Jahren beschäftige ich mich intensiv mit der Begleitung meiner Kinder und den Fragen, was sie brauchen um als Erwachsene zu Persönlichkeiten zu werden, die gut für sich sorgen können und einen guten inneren Kompass entwickelt haben, der ihnen Orientierung gibt. Immer wieder begegnet mir dabei das Wort Selbstverantwortung. Ich erinnere mich an die Lektüre von Reinhard Sprengers Buch: “Das Prinzip Selbstverantwortung” bei dem es u.a. auch um Selbstverantwortung im Führungskontext geht (auch ein Thema von mir). Wie sieht es denn mit mir selbst aus? Da gibt es Teilbereiche in denen ich die Verantwortung ganz bei mir spüre, wie bspw. die Beschäftigung mit der Heilung meiner Hashimotoerkankung und dann gibt es wieder Bereiche in denen ich die Verantwortung auch gerne mal abgebe. Ich treffe einen Entschluss: ich möchte mein Leben zunehmend in radikaler Selbstverantwortung leben und hole mir die Verantwortung zurück wo ich diese noch abgegeben habe. (Ich glaube, ich habe viel an meinen inneren Schweinehund abgegeben.) Ich bin gespannt wohin mich diese Reise führt.

Verantwortlich ist mithin jeder nicht nur für das, was er tut, sondern auch für das, was er unterlässt.

Reinhard Sprenger

Vor mir erscheint ein See, diesen habe ich hier noch nie gesehen, er scheint so friedlich still. Vom Bahnhof wurde ich von meinen Gedanken zur Selbstverantwortung hier her getragen und wie in Trance dem Wanderziel des Tages näher gekommen. Ich schalte die Musik in den Ohren aus, möchte Stille genießen. Der Schein trügt. die Autobahn ist fast nebenan. Jetzt mag ich hier weg aus dem Wald und ankommen, meine Ungeduld treibt mich an. Unter der Autobahn durch sehe ich ihn endlich den Hügel. Ich fühle mich herrlich leicht und frei. Die Stadt liegt hinter mir und ich laufe immer schneller auf den Waldrand zu. Jetzt raste ich erstmal mit Banane und Nüsschen und lasse diese Tour auf mich wirken.